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Stuttgarter Mitteilungen über Kunst und Gewerbe — 1905-1906

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Lange, K.: Die Entstehung der dekorativen Kunstformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.6371#0089
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handen ist, ist als Werkform,
d. h. als das praktisch Be-
dingte, anzusehen. Das Ent-
scheidende ist eben nicht der
Unterschied des Kerns und
der Hülle, der Werkform und
des dieselbe verkleidenden
Ornaments, sondern das Vor-
handensein einer Form, die
nicht praktisch gefordert
ist. Jede solche Form, d. h.
jede Form, die über das
praktisch Geforderte hinaus-
geht oder von dem prak-
tisch Geforderten abweicht

ist KlinStform. Schon in der Erich Kleinhempel in Dresden, Entwürfe für Oefen. D.[Nr. 313.

Linienführung eines tekto-

nischen Gliedes, schon in seinem Umriß, seiner Massenverteilung, seinem all-
mählichen An- und Abschwellen kann sich eine künstlerische Leistung aus-
sprechen. Bedingung ist dabei nur, daß diese Formen sich nicht als
selbstverständlich aus der Technik ergeben. Mit einem Wort: die
Kunstform fängt erst jenseits der Werkform an, sie ist das, was der mensch-
liche Geist zu dem materiell Geforderten als Selbständiges, Geistiges
hinzubringt.

Dann aber bezieht sich unser ästhetischer Genuß bei der Anschauung tek-
tonischer Gebilde offenbar auf dieses Plus, nicht auf das, was die praktische
Grundlage, den praktischen Ausgangspunkt der Phantasietätigkeit bildet. Und
das war nun gerade der Fehler, den die materialistischen Aesthetiker machten,
daß sie schon die Freude an der Werkform für einen ästhetischen Genuß
hielten. Gewiß wird es uns nicht einfallen, diese Freude zu leugnen. Aber
andererseits wird man uns wohl zugeben, daß sie ihrem Wesen nach genau
dieselbe ist, wie die Freude, welche wir an einem gut und zweckmäßig aus-
geführten Handwerksgegenstand haben. Auch ein Handwerksgerät, z. B. ein
praktisch geformter, kleiner und leichter Hausschlüssel, ein Taschenmesser,
das solid gearbeitet ist und gut schneidet, kann uns Freude machen. Auch
an einer zweckmäßig konstruierten Maschine, an einer Eisenbahnbrücke oder
einem Boot, das die Wellen leicht durchschneidet, können wir unsere Freude
haben. Aber diese Freude ist in der Regel keine ästhetische, sondern eine
rein praktische. Wir freuen uns darüber, daß diese Dinge das, was sie leisten
sollen, auch wirklich leisten, d. h. wir freuen uns über ihre praktische Brauch-
barkeit. Das ist eine praktische oder intellektuelle, oder vielleicht auch eine
ethische Freude wenn wir nämlich an den reellen Handwerker oder an
den scharfsinnigen Ingenieur denken, dem wir diese Dinge verdanken aber
keine ästhetische Freude.

Das läßt sich sehr leicht nachweisen. Es gibt andere Künste, denen der
praktische Zweck überhaupt fehlt, z. B. Malerei, Plastik, Musik und Tanz.
Wenn wir die ..Nutzkünste" mit diesen überhaupt unter einen Gesichtspunkt
bringen wollen — und das tut ja unser Sprachgebrauch, indem er sie als

K. Lange,
Die Ent-
stehung
der deko-
rativen
Kunst-
formen.

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